WiW: Dieter Reichenauer: Unterrichtssprache Deutsch - Pausensprache?

Die Debatte um die Einführung des Prinzips „Schulsprache Deutsch“, mit dem erreicht werden soll, dass auch in den Unterrichtspausen Deutsch gesprochen wird, gewinnt zunehmend an Brisanz.

Einfügung: "Gebt mir dazu Sprachen, alten und neu'n, Dass ich der Völker Gewerb' und ihre Geschichte vernehme."
Johann Wolfgang von Goethe: Venetianische Epigramme, Nr.16]

Prinzip Schulsprache Deutsch
In vielen Schulen findet sich diese Vorschrift bereits in der Schulordnung. Doch erfolgt die Deutschpflicht in Pausen in Bindung an geltendes Recht? Für die Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Gabriele Kucsko-Stadlmayer (u.a. Verfasserin des Buches „Das Disziplinarrecht der Beamten“) verletzt die Deutschpflicht in der Pause die Privatsphäre. Integrationsfördernde Maßnahmen dürften nicht zu einem Eingriff in die Freiheitsrechte mutieren. die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) verlange zum Beispiel auch, dass man Religion, Sprache und Kultur der Menschen respektiere. Eine Deutschpflicht in der Schulpause wäre damit nicht vereinbar. Die Anpassung an das Wertesystem der EMRK könne und müsse jedoch verlangt werden („Die Presse“, 2.11.2015, S. 13). Zusätzlich gewinnt die Debatte Aktualität durch die neuen Herausforderungen im Zusammenhang mit der Sprachbildung von Flüchtlingen sowie die Sprachförderung von Schülern mit Migrationshintergrund. Dem Thema „Sprache und Schule“ ist Valenz zuzubilligen.

Grundrechtswidrig
Die in Schulordnungen Eingang findende Anordnung der zwingenden Verwendung der deutschen Sprache auf dem Schulgelände - nicht nur im Unterricht, sondern auch in den Pausen - hält auch Verfassungsjurist Bernd-Christian Funk für grundrechtswidrig. Ebenso Universitätsprofessor Heinz Mayer: „Damit würde man das Recht auf Privatsphäre verletzen, das in der Menschenrechtskonvention verankert ist.“ Gleichwohl sieht Mayer schon jetzt die Möglichkeit, die Verwendung der deutschen Sprache auch in den Pausen zu verlangen. So enthält die Schulordnungs-Verordnung vom 24. Juni 1974, BGBl. Nr. 37 in § 1 Abs 2 die Verpflichtung von Schülerinnen und Schülern, sich in der Gemeinschaft der Klasse und der Schule hilfsbereit, verständnisvoll und höflich zu verhalten. Eine andere, Mitschüler ausschließende Verwendung einer anderen Sprache als Deutsch wird dann wohl eher als unhöflich zu bewerten sein. (Vgl. „Die Presse“, 24.10.2015. S. 10).

Leitkulturdebatte?
Schulordnungen mit einem Verbot anderer Sprachen als Deutsch in den Pausen verheddern sich allzu leicht in einer Leitkulturdebatte. Was ist österreichisch? Vor allem aber bringt das Pochen auf Leitkultur Schüler/innen mit Migrationshintergrund in einen Konflikt zwischen Elternhaus und Schule. Unnotwendigerweise. Die Schüler/innen - nunmehr verstärkt dem Vorwurf der Integrationsresistenz ausgesetzt - werden stigmatisiert, die Parallelgesellschaft gefördert.

Umgang mit Mehrsprachigkeit
Schulz schreibt, es sei eine Illusion zu glauben, Einsprachigkeit sei das einzig Sinnvolle für eine Gesellschaft und Zweisprachigkeit nur eine Ausnahme und mit Problemen behaftet. „Zweisprachigkeit ist somit keine Ausnahme, sondern eine teilweise ignorierte Tatsache.“ Im Grunde gehe es nicht darum, ob nun eine Mehrsprachigkeit bestehe oder nicht, sondern darum, wie mit Mehrsprachigkeit umgegangen werden könne, dass sie sich für alle Beteiligten positiv auswirke. Es liege also an schulpolitischen Maßnahmen und ihren Herangehensweisen und Einstellungen zum Thema Mehrsprachigkeit (vgl. Schulz 2011, S. 18).

Neue didaktische Wege gehen
Der Prozess der Förderung sprachlicher Ressourcen der Schülerinnen und Schüler verlässt zunehmend den engen Pfad der arbeitsteiligen, miteinander unverbundenen bloßen Kombination von Deutsch- und Fremdsprachenunterricht zugunsten eines Sprachenunterrichts, in dem auch die Sprachen der Schülerinnen und Schüler ihren Ort haben, deren Muttersprache nicht Deutsch ist (Ehlich 2013, S. 208). Diese Sichtweise hat schon längst unter dem Titel „Curriculum Mehrsprachigkeit“ Eingang in die Lehrpläne gefunden. Mit dem Ziel, sich in der heutigen Welt sprachlicher Vielfalt unter Einbindung der eigenen (sprachlichen) Lebenserfahrung zu orientieren, und zwar aufbauend „sowohl auf die in der Primärsozialisation vermittelten Sprachkenntnisse und die persönlichen Spracherfahrungen der Schülerinnen und Schüler als auch auf die Lernprozesse in institutionell organisiertem Sprachunterricht“ (Reich/Krumm 2013, S. 10).

Marginalisierung
Wird die alltägliche Herausforderung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund, sich in mehreren Sprachen zu bewegen, von der schulischen Umgebung nicht gewürdigt oder gefördert, führt dies zu Marginalisierung der Erstsprache. Gefördert wird eine derartige Haltung auch dann, wenn Lehrerinnen und Lehrer „das Problematische der mehrsprachigen Sozialisation in den Vordergrund rücken“ (Kassis-Filippakou 2013, S. 233).

Logik der „Diskriminierungstechnik“
Damit sind wir wieder bei den Betroffenen, den Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund. Sie sehen sich im „Zwiespalt zwischen gewollter Integration und dem Versuch, die eigene Kultur und Sprache nicht verkommen zu lassen.“ (Schulz 2011, S. 63) Der schulische Selektions- und Allokationsprozess fällt zu ihren Ungunsten aus. Sie sehen sich einem Druck von Schule und Gesellschaft ausgesetzt, einer „institutionalisierten Logik einer Diskriminierungstechnik“ über das Selektionsfach Deutsch, die allem Anschein nach für „eine ungleiche Selektionswirkung in der Gruppe von Jugendlichen aus eingewanderten Familien“ sorgt (Kassis-Filippakou 2013, S. 240).

Sprachförderung
Welche Sprachförderung wird als erfolgreich gesehen?

Pädagogische Prinzipien
Zum einen sollte Assimilation so weit wie möglich umgangen werden und stattdessen die Muttersprache und die kulturellen Unterschiede ernst genommen werden. Dem folgend müssen die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler berücksichtigt werden und Vorerfahrungen, Vorstel-lungen und Werteorientierung der Schülerinnen und Schüler in die Förderung der deutschen Sprache integriert werden (Schulz 2011, S. 33).

Interkulturelles Lernen
Im Zuge der Thematisierung von kulturellen Bräuchen, Festen und dem kulturell unterschiedlichen Alltagsleben sollen Vergleich zwischen der Erst- und Zweitsprache angestellt werden und der sprachlich kulturelle Hintergrund dabei einbezogen werden (Schulz 2011, S. 34).

Zielsetzung für den (Deutsch)-Unterricht
Schulz nennt als Beispiel für neue Aufgabenfelder u.a. die Erweiterung des Angebots an Schulsprachen, Reflexion der sprachlichen Gegeben-heiten, Hinterfragung konkreter Unterrichtsprozesse (auch im Hinblick auf interkulturelle Einstellungen des Lehrkörpers) sowie die kritische Prüfung monolingualer Grundhaltung der Institution Schule und der ihr entsprechenden Gestaltung von Unterricht (Schulz 2011, S. 34-35).

Resümee
Eine im Wechsel der Jahreszeiten (der Legislaturperioden) betriebene überschießende Debatte über verpflichtenden Deutschgebrauch auf dem Pausenhof ist entbehrlich. Eine Leitkulturdiskussion läuft Gefahr, das Argument gegen das Ressentiment zu tauschen und politisch-weltanschaulicher Präferenz Vorrang vor nüchterner Beobachtung einzuräumen. Die Beantwortung der Frage, das Verhältnis Schule und Sprache betreffend, welche pädagogischen und didaktischen Konzepte zielführend sind, welchen Stellenwert Mehrsprachigkeit in der Schule hat sollte den Lehrerinnen und Lehrern überlassen bleiben - ohne erhobenen Zeigefinger und Sprachverwendungsschnüffelei durch Schulbehörden. Den geneigten Leser, die geneigte Leserin erinnert diese detailverliebte Wichtigtuerei mancher Politiker wohl eher an Goethes Diktum:  „Durch Heftigkeit ersetzt der Irrende, was ihm an Wahrheit und an Kräften fehlt“

Literatur
Ehlich, K. (2013): Sprachliche Basisqualifikationen, ihre Aneignung und die Schule, in: Die Deutsche Schule, 105. Jg., H 2, 2013, S. 199-209 Kassis-Filippakou, M. (2013): „Zur Beurteilung sprachlicher Kompetenz Jugendlicher mit Migrationshintergrund. Eine qualitative Analyse“. Münster: Waxmann.
Reich, H. und Krumm, H.-J. (2013): „Sprachbildung und Mehrsprachigkeit“. Münster: Waxmann.
Schulz, J. (2011): „Sprachförderung von Schülern mit Migrationshintergrund“. Norderstedt: GRIN.

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Kommentare: 1
  • #1

    Ambros Gruber (Samstag, 22 Dezember 2018 11:19)

    Gratuliere zu diesem Artikel, der alles Wesentliche sagt, was zu diesem Thema gesagt werden muss. Die politischen Entscheidungsträger*innen müssen diesen Text nur mehr lesen...